Jürg von Känel
* 13. Mai 1951 † 06. Januar 2005
Jürg von Känel, von Beruf Mechaniker und Bergführer,
Führerautor und Alpinist ist irgendwann ins Klettern
»gerutscht«, das dann sein Leben prägte. Das Klettern
hat ihm Selbstbestätigung und viele Freundschaften
gebracht. Es war ihm wichtig, seinen Horizont zu erweitern,
und dank der Begegnung mit anderen Menschen
konnte er vielfältige Erfahrungen machen sowie die
Kameradschaft beim Bergsteigen genießen.
Kurz nachdem Jürg von Känel mit dem Klettern angefangen
hatte, wurde er auch schon aus der Jugendorganisation
des Schweizer Alpen-Clubs rausgeschmissen mit
der Begründung, er sei zu extrem und verführe andere
zum extremen Bergsteigen! Zudem trug er schon damals
– ganz nach seinem Vorbild Walter Bonatti – einen Helm.
Darauf erklärte ihm ein Älterer: »Du bist noch nicht in
dem Stadium, in dem du einen Helm anziehen darfst …
das dürfen nur die ganz Extremen!« Später gründete Jürg
eine eigene Gruppe, in der junge Talente gefördert wurden,
eine Art extremen Kinderklettergarten.
Ende der siebziger Jahre brachte er die Freikletterwelle
von Amerika in die Schweiz. Mit dem Dach »Haslizontal«
(8a) und später »Mission Miranda« (8b+/8c, 1990) setzte
er Marksteine. »Mission Miranda« wurde bis heute
nur von einer Handvoll Kletterer wiederholt; nach ihrer
Erstbegehung begann Jürg mit dem Verfassen von Kletterführern.
Er prägte den Plaisir-Gedanken (das Klettern
in gut abgesicherten Routen mittlerer Schwierigkeitsgrade)
und setzte erstmals 1992 sein legendäres »Reichenbach,
an einem furchtbar kalten Wintertag« unter ein Vorwort.
Damit war klar: Die in dieser ersten Aufl age des Kletterführers
»Schweiz Plaisir« beschriebenen Touren sollten
nichts mit grimmigen Nordwänden oder heroischen
Zitterpartien weit oberhalb von rostigen Normalhaken
zu tun haben. Seither etablierte sich »Plaisir« als der
neudeutsche Begriff für Genussklettern. Denn Spaß am
Fels ist dort zu finden, wo uns keine objektiven Gefahren
bedrohen, die Routen sehr gut abgesichert und von
moderater Schwierigkeit sind.
Mit diesem Werk erhielt die große Mehrheit der Kletterinnen
und Kletterer erstmals eine Stimme. Ob Jürg von Känel seine
Führer aus Liebe zum Klettern oder aus Leidenschaft am Zeichnen
verfasste, ist bis heute nicht ganz klar.
Eines steht allerdings fest: Es gibt nur wenige
Kletterführer, die so präzise, informativ und trotzdem
übersichtlich sind.
Die heroischen Zeiten
Früher gehörte das Eröffnen einer Neutour zu einer
absoluten Pioniertat. Klettern war Heldentum. Mit
Hammer, Haken und Gottvertrauen zog man los. Kühn
kämpfte man sich durch die abweisenden, oft brüchigen
Felswände. Gesichert wurde an lottrigen Felshaken,
selbstgebastelten Bohrhaken und Holzkeilen. Das Wort
»Erstbegehung« umgab zu jener Zeit eine ganz besondere
Aura. Nur die Besten und Mutigsten wagten sich an
die unbestiegenen Wände und Grate; oft waren die Routen
derart gefährlich, dass sich kaum jemand traute, sie
zu wiederholen. Mit einer Neutour bewies der Erstbegeher
seine psychische und physische Verfassung, er demonstrierte
seine Leistungsfähigkeit am Berg. Je mehr
Wiederholer an »seiner« Tour scheiterten, umso stärker
stieg sein Marktwert. Er bekam Anerkennung, er wurde
bewundert und beneidet. Klettern war damals exklusiv,
und Erfahrung war die Lebensversicherung. Klettern an
der Sturzgrenze bedeutete Lebensgefahr!
Inzwischen aber begegnet man an den Felsen der
Schweizer Berge einer neuen Spezies, die sich, ähnlich
wie schon die Freikletterer, auch einen Platz in unserer
schönen Gebirgswelt sichern möchten. Tatsächlich ist
es heute sogar so, dass die Plaisirkletterer die überwiegende
Mehrheit der Kletterer ausmachen. Trotz – oder
vielleicht gerade wegen – dieser Tatsache, wird eine
Auseinandersetzung über die Ethik dieses Kletterns
geführt, die nicht immer sachgerecht erscheint.
Das Plaisirklettern steht damit in einem gewissen Gegensatz
zum Freiklettern: Ende der siebziger Jahre fragten sich
Unbeteiligte nicht, ob Freiklettern eine sichere Sportart
sei, und ob man zur Ausübung dieser Sportart eben die
nötige Sicherheit (Bohrhaken) bräuchte. Heute ist das
anders ….
Eigentlich hat der Plaisirkletterer die gleichen Wünsche
wie der extreme Sportkletterer: Er möchte in der
Natur sein und sich am ästhetischen Bewegungsspiel
freuen, sich letztlich auch fordern und seine Grenzen
kennen lernen. Er möchte im leichteren Umfeld Erfahrungen
sammeln und seine Klettertechnik verbessern,
auf dass schließlich schwierigere, vielleicht auch minder
gut abgesicherte Routen in Angriff genommen werden
können.
Tatsache ist, dass solche leichteren Routen aber oft
schlecht abgesichert sind, dass Stürzen darin gefährlich
ist, und dass Genusskletterer weniger Erfahrung im dynamischen
Sichern haben.
Recht auf Sicherheit
Jürg von Känel wollte es ganz genau wissen: In seinem
Führer »Schweiz extrem Kalk« suchte er sich zufällig 50
Seillängen im achten und neunten Grad aus. Er zählte
die vorhandenen Zwischensicherungen (Bohrhaken)
sowie die Klettermeter zusammen und dividierte diese
durch die 50 Seillängen. Siehe und staune: Der Extremkletterer
dieses Schwierigkeitsbereiches genießt durchschnittlich
die Sicherheit von sieben bis zehn Bohrhaken
auf 30 Meter Kletterstrecke und findet dies ganz
normal, ja sogar nötig. Der Plaisirkletterer muss sich
dagegen mit zwei bis vier (teilweise sogar noch rostigen)
Zwischensicherungen zufrieden geben. Solche Routen
gelten sogar als gut abgesichert, obwohl ein Sturz in
den meisten Fällen fatale Folgen hätte. Und Seillängen
mit der gleichen Anzahl Bohrhaken, wie man sie in den
obersten Schwierigkeitsgraden als guten Durchschnitt
kennt, gibt es auf Plaisirniveau praktisch keine. Was
würden wohl die Besucher einer Kletterwand sagen,
wenn die leichten Routen nur halb soviele Zwischensicherungen
aufwiesen wie die schwierigen?
Überspitzt könnte man behaupten, dass eigentlich beide,
Plaisir- wie Extremkletterer, gleich viele Bohrhaken
pro Seillänge zur Verfügung haben sollten. Eine Route
am Brüggler mit fünf Bohrhaken wird aber als übertrieben
abgesichert angesehen, während eine Seillänge
an den Wendenstöcken im neunten Schwierigkeitsgrad
mit gleich vielen Bohrhaken als exponiert gilt. Hat nicht
jeder Kletterer das gleiche Recht, in den Bergen seine
Bedürfnisse abzudecken? Hat nicht jeder Kletterer gleiches
Recht auf Sicherheit?
Zu guter Letzt
Jürg von Känel hat dafür Sorge getragen, dass heute sehr
viele Routen so eingerichtet sind, wie er es mit diesen
Zeilen formulierte. Zweifellos wurden dadurch – trotz
massiv gestiegener Kletteraktivität – zahlreiche Unfälle
vermieden. Mehr Menschen können eine faszinierende
Sportart für sich entdecken, und es öffnet einem breiteren
Publikum Augen und Herz für unsere wunderbare
Bergwelt.
Unser ganzes Mitgefühl gilt der Familie von Känel sowie
all seinen Freunden, die diese Last zu tragen haben,
verbunden mit dem Dank für die Erlaubnis, diese
Zeilen zu veröffentlichen.
Reichenbach, an einem furchtbaren Wintertag, an dem
ein großer Mensch sein Leben aufgab.
Kommentar schreiben