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Können wir noch Eigenverantwortung?

Seit Jahren beobachte ich die Entwicklung sowohl im Klettersport als auch in unserer Gesellschaft. Alles soll möglichst "safe" sein. Wie ein roter Faden zieht sich dieses Wort und Lebenseinstellung durch unser Handeln. Können wir überhaupt noch eigenverantwortlich unterwegs sein? Dieser Frage möchte ich einmal nachgehen.

 

Ich selbst klettere seit über 40 Jahren und lebe immer noch. Wie war das nur möglich ohne Partnercheck, ohne Prusik beim Abseilen, ohne Knoten im Seil?

Situationsangepasst sichere ich leichte oder gleich schwere Partner mit dem Achter. Kennt den überhaupt noch jemand? Schwerere Personen mit Grigri. Maximal im alpinen Gelände nutze ich die Vorteile des Reverso oder Tube. Zum Navigieren nutzen wir unsere Erfahrung, analoge Karten oder Beschreibungen. Mit einem Smartphone kann ich selbst nicht gut umgehen, wie es für die junge Generation selbstverständlich geworden ist. Ich habe es oft versucht, sehe aber keinen zusätzlichen Nutzen für mich. Im Gegenteil. Es nervt, weil vieles nicht so funktioniert, wie man es sich wünschen würde. 

 

Mir scheint es ganz so, als ob die heutige Generation Risiko überhaupt nicht mehr zulässt und Eigenverantwortung nur zu gerne abschiebt. Eine krasse Fehlentwicklung, wie ich meine. Die Unfälle und Unfallhergänge zeigen es ganz deutlich. Angefangen vom Umbindefehler, nicht korrekt geknüpfter Knoten, Sicherungsausbrüche, der Umgang mit brüchigem Gestein. Die Liste lässt sich beliebig fortsetzen. Was fehlt sind die Erfahrungen im Umgang mit der Situation und dem Risiko. Vieles wird abgeschoben. Der Partner soll mich checken und so mitverantwortlich sein. Was passiert, wenn ich ständig so unterwegs bin und einer vergisst mal zu checken? Was, wenn ich im alpinen Gelände plötzlich auf mich allein gestellt bin? Wenn es mal keine GPS-Koordinaten für den Einstieg gibt?

 

 

 

Für mich sind das alles Wege in eine Sackgasse aus der man aber auch wieder herausfinden kann.

Schon im Kindesalter werden viele von ihren Helikoptereltern, die ständig über ihnen kreiseln, geprägt und in diese Richtung gedrängt. Nichts zulassen, was auch nur annähernd gefährlich sein könnte. Wie soll ein Kind sich so im späteren Leben zurechtfinden, wenn es immer alles vorgekaut bekommt? In meiner Kindheit war den ganzen Sommer Grind auf meinen Kniescheiben. Bei Wind und Wetter waren wir draußen unterwegs. Mit "urzeitlichen" Mountainbikes im Wald. Wir zündelten am Lagerfeuer. All das bekommen wir als Gesellschaft und Kinder im speziellen verboten. Verbote allen Ortes. Wollen wir das wirklich? Wollen wir alles aufgeben was einmal unser Leben und unsere Gesellschaft geprägt hat? Verabredungen waren mangels Telefon immer verbindlich. Man konnte sich auf seinen Partner verlassen. Ist das heute immer noch so? Oder machen wir es uns zuweilen recht bequem mit einer Absage per SMS oder WhatsApp?

 

| Nicole seilfrei im Ausstieg der Via delle Guide am Crozzon di Brenta. Zeitgewinn ist auch Sicherheit im alpinen Gelände. 

Nur wenn man sich der jeweiligen Situation wirklich stellt und sie so annimmt, wie es der Augenblick erfordert, wird man Erfahrungen sammeln. Positive wie negative. Und hoffentlich immer mit einem guten Ende. Ja, es ist richtig, wir hatten oft einen guten Schutzengel. Aber Glück hängt auch vom Können und von Erfahrung ab. Eine solide Ausbildung oder ein guter Freund ist natürlich von größtem Vorteil. Ich frage mich oft, ob die gängigen Lehrmeinungen uns hier nicht einen Bärendienst erweisen?

Ich kann jedem nur empfehlen Eigenverantwortung zu übernehmen, sich selbst zu hinterfragen, zu checken ob ich richtig eingebunden bin. Sich brenzligen Situation zu stellen und lernen damit umzugehen. Für sich selbst einen gangbaren Weg zu suchen. Risiko zuzulassen und zu tolerieren. Zumindest bis zu einem für mich vertretbaren Punkt. Einmal über den Tellerrand hinaus zu schauen. Die eigene Komfortzone verlassen. Nicht andere für mich denken lassen. Oder Verantwortung wegschieben. 

 

All das sind Dinge, die man in der heutigen Zeit an fast jedem Klettertag beobachten kann. Sturzangst bereits einen Meter über der letzten Sicherung. Wie klettere ich ohne Clipstick hohe erste Haken an? Wo muss man wirklich vorsichtig sein und aufpassen? Wo lauern tödliche Gefahren? Wie beruhige ich mich und stelle die Nähmaschine ab? Und so vieles mehr.

 

Man muss nicht jedem Trend folgen. Jedes neue Produkt ausprobieren, mit dem uns die Industrie vermeintlich das Leben leichter machen möchte. Es gibt sicher viele gute Entwicklungen, die einen immensen Sicherheitsgewinn gebracht haben. Aber auch vieles was ein großes Risiko in sich birgt, was man auf den ersten Blick gar nicht so einfach erkennt. Wir haben es selbst in der Hand, was wir davon nutzen möchten und was besser kritisch hinterfragen. 

 

Klettern ist ein Risikosport, genau wie das tägliche Leben.

 

Volker Roth

Betzenstein, Juni 2023

 

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