Achtung! Lesezeit >10 Min.; Bedenkzeit: viele Jahre!
Inzwischen versuchen sich immer mehr junge Menschen an Mehrseillängenrouten. Mich freut das sehr! Viele davon sind gut vorbereitet. Aber reicht das aus? Leider nein! Es braucht hierzu einfach eine jahrelange Expertise, die man nicht auf YT oder aus Internetblogs erwerben kann. Und auch der Routenplaner und GPS helfen nur wenig, führen nicht selten sogar in den "Abgrund", wie erst kürzlich berichtet wurde.
Viele Skills, die wir früher ganz automatisch durchs tägliche Leben mit auf den Weg bekommen haben sind verloren gegangen. Kinder von Helikoptereltern haben es dabei besonders schwer. Orientierung im Gelände muss mühsam erlernt werden. Der siebte Sinn, wo wirklich Gefahr lauert, muss sich erst entwickeln.
Alpinklettern geht weit über den Partnercheck hinaus. Draußen ist anders. Im folgenden Beitrag möchte ich meine Erfahrungen aus 40 Jahren Alpinklettern gerne mit euch teilen.
In diesem Jahr waren wir in einigen "Hip-Destinations" weltweit unterwegs. Was wir erlebten war ein klettertechnisches Desaster sondergleichen. Stunde um Stunde standen wir im Stau. In der Tour, am Einstieg oder wir stiegen gar nicht erst ein. Aus vielen Touren half nur die Flucht nach unten. So viel Trinkwasser und Essen hätten wir gar nicht dabei gehabt, um dort zu "biwakieren". Es fehlt bei vielen einfach an allem. Am Kletterkönnen, der Wegfindung, dem Umgang mit mobilen Sicherungsmitteln, der Strategie, usw.
Man möchte so gerne helfen. Aber die Nerven liegen blank und nicht nur die Armmuskel sind bis zum Bersten gespannt.
Hilfe tut NOT!
Wie kann man sich für die nächste Saison etwas besser vorbereiten? Hier ein paar Tipps und dein 10-Punkte Programm!
1.) Am Anfang steht das Training. Für mich ist der untere VII. Grad in Mehrseillängentouren ein Schlüssel zum Erfolg. Kannst du diesen sicher klettern, wirst du in 60-80 % aller Touren kaum in brenzlige Situationen kommen. Ich meine damit aber nicht das Ausbouldern im Klettergarten, sondern flüssiges Klettern über viele Seillängen hinweg. Also ab in die Kletterhalle oder an den Fels und Routen abspulen, um diese Ausdauer zu bekommen.
Im alpinen Gelände braucht es zuweilen ganz andere Techniken als das reine Leisten- und Löcherziehen. Risse, Kamine, Platten usw. wollen bewältigt werden. Ggf. auch technisches Klettern mit einer Trittschlinge oder mal ein Zug am Friend, wenn das Kletterkönnen nicht ausreicht oder du wieder mal mit Beschreibungen von mountain4nothing unterwegs warst, und ohne Selbstverschulden in prekäre Situationen gebracht wurdest.
Bei uns in Deutschland würdest du so eine "Grundausbildung" am ehesten im Elbsandstein bekommen. Such dir einen Freund oder eine Bergschule und investiere mal ein, zwei Tankfüllungen. Das Geld ist sicher gut angelegt.
2.) An der Ausrüstung mangelt es selten. Topgestylt mit dem neuesten und besten Material sind die meisten unterwegs, ganz im Gegensatz zu machen von uns "alten"...
Doch wie setze ich das alles richtig ein?
Mit einem prall gefüllten Hochtourenrucksack kletterst du immer "schwer" aber auch langsam...
Leicht und schnell ist die Devise!
Überlege, was du wirklich benötigst.
Brauche ich wirklich 1,5 l Wasser oder reichen für 150 Klettermeter auch mal ein paar Schlucke aus der Pulle?
Brauche ich wirklich die fetten Bollerschuhe oder reichen leichte Sporttreter aus? Oder kann abgeseilt werden. Welche Klamotten für Wärme oder Kälte oder gar ein Gewitter...
Mobile Sicherungsgeräte, sofern ich sie denn überhaupt benötigt werden, sollten niemals im Bündel sondern einzeln am Karabiner hängen. In Tradrouten sogar gleich mit einer Expresse bestückt sein. Zeit zum Legen bedeutet in diesem Fall Kraftaufwand. Schule also dein Auge, lerne die Farben und Größen auswendig. Aber BITTE NICHT in deiner ersten Mehrseillängenroute! Erfahrene Kletterer werden es dir danken, wenn du sie in ihrem Vorwärtsdrang nicht behinderst! Sei fair und lasse sie überholen.
Keile hänge ich mir maximal 3 in einen Karabiner. Jeweils einen links und rechts verteilt. Fällt tatsächlich mal ein Set runter, habe ich noch ein zweites. Ich selbst musste mir noch nie Keile kaufen. Ich habe alle in den Touren oder am Einstieg gefunden. Es scheint also gar nicht so selten zu sein. Dazu hängen gelassene Expressen, Schraubkarabiner, Bandschlingen und fertig ist meine runderneuerte Ausrüstung. Leute! Wo habt ihr euren Kopf?
3.) Besorge dir gute Kletterführer mit zuverlässigen Informationen, damit du vor! Tourenantritt weißt, was dich erwartet und planen kannst. Mountain4nothing ist zwar gratis aber nicht selten auch sehr "rudimentär". Am Ende zahlst du drauf! Aus 30 Min. Zustieg können da schon mal 1 Std. werden. Und wenn du eine weitere Stunde nach dem Einstieg suchst, ist die Tour schon bald gelaufen. Steht ein Südländer spät auf, kann die Südwand schonmal eine Westkomponente aufweisen und die Finger erwärmen sich erst am Nachmittag.
In einer längeren MSL-Tour tickt die Uhr und die Zeit ist ein Dieb. Die Schwierigkeitsgrade müssen passen. Wenn du einen VIer rausgesucht hast, weil du dir nicht mehr zutraust, sollte daraus kein VIIer werden, nur um das Ego des Erstbegehers zu befriedigen. Je mehr Kletterer an seiner Tour scheitern, desto höher stiegt sein "Marktwert". Und du wirst "klein" gehalten. Du kannst es mir glauben, in diesem Business sind viele "verrückte" Menschen unterwegs.
4.) Die Zeiten wo dir Bergbauern oder Hüttenwirte das Wetter orakelt haben sind Gott sei Dank vorbei. Zuverlässig vorhersagen lässt sich das Wetter leider immer noch nicht. Aber meist passt es zumindest für den nächsten Tag oder die nächsten Stunden. Wer sicher gehen will beschäftigt sich selbst etwas mit der Meteorologie. Für lange klassische Touren ohne Rückzugsmöglichkeiten eigentlich ein Muss, um eigenverantwortlich Entscheidungen treffen zu können.
Eine Wetter-App für jede Region sollte so selbstverständlich sein, genau wie dein Blick darauf vor Tourenantritt.
Die wichtigsten Wetterseiten findet ihr auf unserer Homepage.
5.) Sofern es nur wenig oder keine Haken gibt ist die Wegfindung wohl der komplexeste Teil bei Mehrseillängentouren. Auch hier hilft ein guter Kletterführer weiter aber meist jedoch nur jahrelange Erfahrung. Backe hier erstmal kleine Brötchen. Auch wenn du 10er klettern kannst, nützt dir das in brüchigem und unübersichtlichen Gelände recht wenig. Schaue auf abgekletterten Fels oder wo ist er z. B. im Granit flechtenfrei. In klassischen Touren folgst du dem gangbarsten, leichtesten Weg, der sich absichern lässt.
Bist du auf der richtigen Fährte steckt hier oder da vielleicht mal ein Haken oder weist eine Schlinge den Weiterweg. Und am Stand sind nicht selten diverse Hinterlassenschaften. Vom kleinen Braunen, über die Kippe, bis in zur Müsliverpackung, kann man so einiges "richtungweisendes" finden. Wie sagt der Bauleiter: Auf die Baustelle kommt man ausgeschissen!
Um diesen Spürsinn zu entwickeln und Fehlverhalten abzustellen braucht es sicher viele Jahre und unzählige Touren.
6.) Liegt die Verantwortung bei nur einem Vorsteiger sollte dieser den Stand so gut wie möglich an den Nachstieger "übergeben".
Dazu zählt vor allem das Seilhandling. Ist auf Absätzen oder Bändern ausreichend Platz vorhanden, kann man das Seil in zwei bis drei Portionen "ausbreiten". Nie mit gleich langen Schlaufen, sondern zum Ende hin kürzer oder länger nach Vorlieben.
Im Hängestand ist leider das "Durchziehen" meist die bessere Wahl um Seilsalat zu vermeiden.
Als Dauervorsteiger mache ich mich selbst meist nur mit einer Bandschlinge am Stand fest. Nicht Lehrbuchmäßig!! Den Seilzweiten dann mit Mastwurf und Kletterseil im bereits vorbereiteten Karabiner.
Bei ähnlichen Gewichtsverhältnissen ist für mich die beste Version die Körpersicherung mit einem Reverso oder ähnlichem Sicherungsgerät. Dazu einen Dummyrunner oder Karabiner im Stand und gleich danach eine verlässliche Sicherung, die natürlich auch mobil sein kann, wenn der Bohrhaken zu weit oben gesetzt wurde. Das gilt auch für leichtes Gelände! Hier lauert die größte Gefahr bei einem Sturz in den Stand oder Körper!!!
Bei schweren Touren hat sich der "Blockvorstieg" als vorteilhaft erwiesen. Hierbei klettert ein Vorsteiger mehrere Längen und der Nachsteiger "ruht sich hoch". Psychisch und physisch ausgeruht wechselt er dann nach 3-4 Längen ans scharfe Ende. Oder einer übernimmt die psychisch fordernden oder selbst abzusichernden Längen, der andere die schweren, gut gesicherten. Usw.
Ihr seht schon, die Sache ist komplexer als man meinen möchte und somit facettenreicher als ein Klettergartenbesuch.
7.) Unglaublich viel Zeit verlieren Seilschaften beim Abseilen. Hier sind beide! gefordert. Ein eingespieltes Team ist hier von großem Vorteil. Das richtige Seilhandling ebenfalls. Liegt ein Ring am Fels auf, muss der Knoten dahinter, sprich unten sein. So lässt sich das Seil leichter abziehen. Probiere beides einmal aus. Wenn du am unteren Stand bist ziehe kurz am Seil, ob es sich abziehen lässt. Der Seilzweite könnte ggf. noch eingreifen und Veränderungen vornehmen. Notfalls sogar einen weiteren Karabiner oder Maillon spendieren, von denen du immer 2-3 Stück und 1-2 "Einwegschlingen" für den Notfall am Gurt haben solltest. Je nach Dicke des Geldbeutels tut es auch die eigene, neue Ausrüstung.
Manchmal muss das Seil vom zweiten über eine Kante oder Schlitz hinweg gezogen werden, weil es sich sonst beim Abziehen verklemmen würde. Dazu macht man sich an einer Sicherung kurz fest und zieht den Knoten über die Kante. Hierbei sollte die Kommunikation nach "unten" stimmen und das Seil am unteren Stand "gefädelt" und/oder mit entsprechendem Spielraum fixiert sein. Geht natürlich nur bei Abseilstrecken kleiner 50 m oder mit 60 m Seil. Wobei mir letzteres zu lang ist und zu viel wiegt.
Wenn immer möglich, bevorzuge ich kurze Abseilstrecken. Denn Seilrettungen dauern länger...
Nun zum nächsten Schritt: Der Seilerste fädelt den abziehenden Strang, sofern er sich die Farbe gemerkt hat..., bereits für die nächste Abseilstrecke durch den Maillon, Ring, oder Karabiner und wirft oder lässt das eine Seilende schon hinunter. Im steilen Gelände selten ein Problem, auf Platten schlängelt es sich meist von selbst und im geneigten Schrofengelände werfe ich es "aufgenommen" so weit es geht.
Schau auf deinen Partner, dass er sich sofort nach Ankunft am Stand mit seiner Bandschlinge sichert. Nicht selten wird das gerne mal in der Hektik und bei Müdigkeit vergessen, gerade bei der Ankunft auf breiteren Bändern oder Absätzen. Man lehnt sich zum Seilabziehen zurück und rumpel die pumpel, weg ist der Kumpel...
Behalte die Übersicht, wo Schuppen lauern, die das Seil gierig verschlingen, es in Rissen oder Kaminen abtauchen könnte, sich um Ecken verhängen usw. Der Seilzweite kann zur besseren Separierung der Seile einen Karabiner in das abziehende Seil einhängen. Am Stand werden dann die Seile sofort in dieser Position gehalten, damit sie sich nicht umeinanderschlingen.
Schnelles Abseilen braucht viel Erfahrung. Gerade wenn die ersten Tropfen fallen und es donnert. Evtl. sollte man dann den Fußabstieg, wenn möglich, vorziehen.
Übrigens kalkulieren und benötigen wir für eine Abseillänge zwischen 5 und 7 Minuten. Das wirst du erstmal nicht glauben können bis du selbst mal genug Erfahrung hast. 5 Min. für den Seilerersten, der zweite rauscht hinterher. Meist ohne Prusik, weil das Seil ja unten bereits verankert ist oder man es bei aufkommenden Problemen straff ziehen könnte. Zeitgewinn geht immer auf Kosten der Sicherheit! Wir machen auch keine Knoten etc. Aber das muss jeder für sich und situativ entscheiden und ist keine! Empfehlung, sondern nur ein Hinweis.
8.) Zu guter Letzt und auch schon beim Zustieg zur Tour nützt der Helm mehr auf dem Kopf als im Rucksack. Auch Tiere können Steinschlag auslösen. Und die Brotzeit am Einstieg schmeckt mit Helm genauso gut. Bergführer sind nicht selten "Helmbefreit". Da sollte man nicht groß darüber sinnieren. Sie haben halt einen besseren Draht ins Jenseits..
9.) Für mich sind MSL-Touren die Königsdisziplin beim Klettern. Sie fordern so viel mehr und geben dabei so unendlich viel zurück, was nicht mit Kreditkarte gezahlt werden kann. Ich würde mich sehr freuen, wenn wir EUCH beim nächsten mal in einer Tour begrüßen dürfen und wir nicht hinter dir im Stau stehen.
10.) "Der beste Bergsteiger ist immer noch der, der mit einem breiten Grinsen von der Tour zurück kommt"
Volker Roth, am Ende einer staureichen Saison
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