Mit der Einstellung, dass eine Route über möglichst
viel festen Fels verlaufen sollte, war Bruno Detassis
seiner Zeit weit voraus. Sicher hatte er die später von
Andrea Oggioni erstbegangene Verschneidungslinie
ebenfalls bereits erspäht. Doch bei näherer Betrachtung
wurde wahrscheinlich schnell klar, dass dort
kein Prachtfels und keine »Freikletterei« zu erwarten
gewesen wäre. Und so führte ihn sein feines Gespür
– wenn auch nicht auf optimaler Linie – durch den
weniger klar strukturierten rechten Wandteil auf den
Gipfel der Brenta Alta, die heute am meisten wiederholte
Route an diesem imposanten Berg. Mit Fug und
Recht darf diese Route als eines der größten alpinhistorischen
Kunstwerke betrachtet werden.
Allerdings ist die Originalroute heute nicht mehr leicht
zu finden. Viele Generationen von Kletterern haben
inzwischen Dutzende Verhauerhaken geschlagen, die
zu allerlei Varianten verleiten. Auch uns sind sie bei
unserem ersten Besuch zum Verhängnis geworden.
Und so fassten wir 2011 den Entschluss, noch einmal
durch diese Wand zu steigen, um ein gutes Topo
zu zeichnen. Soweit das mit den bescheidenen Beschreibungen
aus den vergangenen 80 Jahren überhaupt
möglich ist. Und tatsächlich hat es auch weitestgehend
funktioniert. Bis auf den Ausstieg. Falls
sich der im Topo schwarz eingezeichnete Originalausstieg
finden lässt, dürfte dieser weitaus angenehmer
und etwas leichter als die von uns gewählte direkte
Linie sein. (Siehe hierzu unsere Geschichte zum Topo
Misterioso
auf den folgenden Seiten.)
Am Gipfel angekommen, schauten wir einander allerdings
fragend an, ob wir diese Tourenspezies noch öfter
unternehmen werden? Und ob es wohl in Zukunft
überhaupt noch Wiederholer für solche Touren gibt?
Wer das alpinistische Niveau mitbringt und sich auf
dieses »kleine Abenteuer« einlässt, wird jedenfalls
auf eine fantastische Reise durch die Alpingeschichte
mitgenommen.